Anlässlich der von Peter Levine und Stephen Porges gehaltenen Fortbildung "Somatic Experiencing und Neurone Abläufe" bin ich auf eindrückliche Ergebnisse für die Therapie gestossen. Die Polyvagale Theorie (siehe auch früheren Beitrag) beschreibt drei neuronale Kreisläufe der Adaptation, die zwar autonom ablaufen, jedoch hierarchisch organisiert sind und drei (neuronale) Verhaltensstrategien bewirken:
- Social engagement system SES: Der Ventrale Vagusnerv erhält einen Zustand aufrecht, der Gesundheit, Wachstum und Erholung erlaubt sowie die Fähigkeit zu ruhen, zu schlafen und zu verdauen. Er ermöglicht uns Säugetieren Gefühle von Vertrauen, Sicherheit und Liebe zu erleben und fördert das Sozialverhalten, welches uns das Überleben sichert.
- Verteidigungsstrategien: Die Mobilisierung erfolgt durch den Sympathikus und löst beispielsweise das Kampf-/Fluchtverhalten bei Gefahr aus. Sie geht einher mit metabolischer Aktivität, Sinnesschärfung und der Durchblutung der Organe und Muskulatur.
- Der Dorsale Vagusnerv steuert die Immobilisation, wie wir sie unter einem Trauma beobachten, welche den Totstellreflex (Erstarren, Ohnmächtig werden, sog. shut downs) beschreibt und durch Lebensbedrohung ausgelöst wird. Diese Nervenbahnen haben wir mit allen Wirbeltieren gemeinsam, sie sind die phylogenetisch ältesten und nicht myelisiert.
Mit hierarchischer Organisation ist gemeint, dass die Nervensysteme in einer bestimmten Reihenfolge aktiviert werden und zwar ist zuerst einmal der phylogenetisch jüngste – der soziale Kontakt – aktiv. Wenn er überfordert wird, tritt die Mobilisierung in Kraft und erst wenn auch diese erfolglos bleibt, stützen wir uns auf die Strategie der Immobilisation. Die wichtigste Konsequenz aus dieser Erkenntnis ist: Je stärker der Ventrale Vagusnerv ausgebildet ist, desto besser funktioniert der Mensch - und glücklicher, entspannter und gesünder ist er.
Mehr zur Polyvagal-Theorie finden Sie bei Stephen Porges oder in der Rezension von H. Frick.
Social Engagement System SES
Das Social Engagement System SES gilt es also zu stärken, wenn wir emotional und sozial entspannt sein möchten und Gesundheit, Wachstum und Erholung wünschen. Da die Nervenbahnen gut myelisiert sind, reagieren wir schnell und fein auf innere sowie äussere Stimuli, synchron und reziprok.
Direkt mit diesem SES-Nervensystem verbunden sind die Gesichtsmuskeln (vor allem die Augenmuskeln, Obicularis Oculi) und die Mittelohrmuskeln (welche auf die menschliche Stimme reagieren und eben nicht wie in den anderen Nervensystemen hauptsächlich auf die gefahrenankündigenden hohen und tiefen Frequenzen). Auf diese Mittelohrmuskeln zielen wir nun mit einer ganz besonderen Therapie, welches die Mittelohrmuskulatur massiert und für die Frequenz der menschlichen Sprache trainiert. Weitere verbundene Muskeln sind unter anderem im Kehlkopf und Rachen (für die Stimme) oder im Kiefer (Kaumuskeln, für die Verdauung). Ausserdem ist das SES-Nervensystem verantwortlich für die Verlangsamung des Herzschlags, die Senkung des Blutdrucks und die Unterdrückung von Erregung - die metabolischen Voraussetzungen für Wachstum und Erholung.
Musiktherapie als Mittelohr-Training
Neuesten Forschungen zufolge (siehe die Arbeiten von safe and sound protocol bei integratedlistening, oder die Studie von Porges et al 2014: Reducing Auditory Hypersensitivities in Autistic Spectrum Disorder: Preliminary Findings Evaluating the Listening Project Protocol) können durch das Mittelohr-Training gute Erfolge bei Autismus-Spektrums-Störungen und Schlaganfallpatienten verzeichnet werden. Die Musiktherapie ist ein spezifisches Mittelohrmuskeltraining, bei welchem während einer Woche eine Stunde pro Tag in entspannender Atmosphäre spezielle Musik gehört wird.
Durch das Mittelohrmuskeltraining werden auch die anderen mit dem SES-System verbundenen Muskeln gestärkt, so dass das SES-System insgesamt trainiert wird. Mit einem starken SES-System können wir synchron und reziprok auf Stimuli reagieren, wir bleiben gelassen und reagieren entspannt.
Für das Mittelohr-Training wird Musik psychoakustisch auf die Hörfläche der Sprache reduziert, der Schalldruck angeglichen und der dynamic range demjenigen der menschlichen Stimme angepasst.
In einer engen Zusammenarbeit mit Thom Wettstein von Mondstein Records habe ich nun eine der Theorie entsprechende Musiksammlung entwickelt. Sobald diese fertig produziert ist, erfahrt Ihr mehr darüber . . .